Interview mit Dacre Stoker, Oktober 2009

Cover phantastisch! 36

Cover: phantastisch! 36

 »Ich bin stolz, ein Stoker zu sein.«

Interview mit Dacre Stoker
Von Nicole Rensmann
erschienen in phantastisch! #36 , Oktober 2009

Der irische Autor Abraham „Bram“ Stoker wurde am 8. November 1847 in Clontarf, in der Nähe von Dublin geboren. Er schrieb zahlreiche Romane und Kurzgeschichten. 1872 veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte »The Crystal Cup« und drei Jahre später seinen Roman »The Primrose Path«.
Seine erfolgreichste Erzählung »Dracula« erschien erst 1897 und wurde bis heute unzählige Male verfilmt und als Buch neu aufgelegt und wiederholt übersetzt. 111 Jahre nach Erscheinen ist Bram Stokers »Dracula« die bekannteste Horrorerzählung aller Zeiten. Viele der heutigen Vampirromane lehnen sich an Bram Stokers Idee an, und das obwohl bereits vor ihm Autoren das Thema »Vampir« aufgegriffen hatten, wie z. B. 1819 John William Polidori in »The Vampyre«, 1847 James Malcolm Rymer mit »Varney the Vampire« oder 1871 Sheridan Le Fanu in »Carmilla«.

Ursprünglich hatte Bram Stokers Roman 1000 Seiten, doch der Verlag kürzte »The Un-Dead« – so der vom Autor geplante Titel des Buches – um mehr als 600 Seiten. Lediglich zwei der gekürzten Kapitel sind in seinem Nachlass gefunden worden.
Am 20. April 1912 starb Bram Stoker. 97 Jahre nach seinem Tod wird nun die Fortsetzung des legendären Draculas publiziert.

Dracula-Ausgabe, Carl Hanser Verlag 1967, Hardcover mit Schutzumschlag

Dracula-Ausgabe, Carl Hanser Verlag 1967, Hardcover mit Schutzumschlag

Nicht nur der Nachname verbindet den Autor des Nachfolgeromans mit Bram Stoker, er hat auch die gleiche Art in ein Notizbuch zu schreiben, wenn kein Tisch in der Nähe ist – den Block auf dem Oberschenkel liegend. Bedeutender ist jedoch, dass in seinen Adern das gleiche Blut fließt.
Denn Dacre Stoker ist Bram Stokers Urgroßneffe.
Mithilfe der Aufzeichnungen seines Urgroßonkels und zahlreichen historischen Recherchen, bei denen er Unterstützung von Alexander Galant erhielt, schrieb er eine Fortsetzung des genreweisenden Romans »Dracula«. Als Co-Autor  fungierte US-Autor Ian Holt.
Das Sequel, das nun den ursprünglichen, vor über 110 Jahren vom Verlag gestrichenen Originaltitel »The Un-Dead« trägt, erscheint in den USA im Oktober 2009. Der Egmont Verlag hat sich die Rechte gesichert und bringt das Buch unter dem Titel »Dracula – Die Wiederkehr« auf den Markt (Juli 2010).

Dacre (gesprochen: Daykre) Stoker wurde am 23. August 1958 geboren und wuchs in Kanada auf, lebt jedoch heute mit seiner Frau Jenne und den beiden Kindern in Aiken, South Carolina, USA.
Er war Mitglied beim Canadian Men’s Modern Pentathlon Team, Senior World Championships in 1979 und trainierte 1988 das Team für die Olympiade in Seoul. Er ist Direktor der Naturschutzbehörde in Aiken und arbeitet dort zudem als freiwilliger Hilfspolizist.
Den weltbekannten Roman seines ebenso berühmten Urgroßonkels las er, als er den Literaturkurs an der Universität besuchte, daraufhin verfasste er eine Abhandlung über Bram Stoker’s »Dracula«. Er sah sich unzählige Vampirfilme an, die ihn jedoch nicht überzeugten.
Von da an wurde »Dracula« und sein berühmter Vorfahr für Dacre Stoker zur Berufung.

Nicole Rensmann/phantastisch!: In einem Interview haben Sie erzählt, dass Ihnen in Ihrer Kindheit keine Gutenachtgeschichten vorgelesen wurden. Was verbindet Sie zur Literatur, zum Buch, zu einer Geschichte, abgesehen von Ihrem bekannten Nachnamen? Was haben Sie gelesen? Was lesen Sie heute?

Der Folgeband ist als Hardcover, Taschenbuch und eBook erhältlich.

Der Folgeband ist als Hardcover, Taschenbuch und eBook erhältlich.

Als ich jünger war las ich viel von Stephen King und Anne Rice. Zum Entspannen lese ich Bücher von Clive Cussler, Tom Clancy und einem Autor aus South Carolina namens Pat Conroy. Ich bin ein begeisterter Fliegenfischer und lese regelmäßig Bücher und Geschichten übers Fliegenfischen. Insbesondere mag ich John Geirach, von dem ich alle Bücher gelesen habe.

Hat Ihr Umfeld – Lehrer, Bekannte, Nachbarn – von Ihnen erwartet ebenfalls Geschichten zu schreiben, die richtungsweisend für einen bestimmten Literaturzweig sein würden?

Bis vor anderthalb Jahren wusste niemand, außer meiner Frau, dass mein Co-Autor Ian Holt und ich an »Dracula – The Un-Dead« arbeiteten. Es sollte ein Geheimnis bleiben bis ich mir sicher war, dass wir etwas erschaffen hatten, auf das ich stolz sein könnte. Ich wusste, dass mich zu viele unterschiedliche Meinungen frühzeitig in Konflikte stürzen konnten.

Sie haben länger darüber nachgedacht eine Fortsetzung zu Bram Stokers »Dracula« zu schreiben, recherchierten mit Hilfe von Alexander Galant. Fügten sich die Ergebnisse der Recherchen mit den vorhandenen Aufzeichnungen erst jetzt zu einem Ganzen zusammen – oder, einmal ehrlich, machen Sie sich den aktuellen Vampir-Hype zunutze um ein Sequel zum Vampirvorreiter „Dracula“ zu präsentieren?

Wir begannen dieses Projekt vor etwa fünf oder sechs Jahren, also bevor der Vampir-Hype seinen Höhepunkt erreichte. Das Schreiben des Buches nahm eine solch lange Zeit in Anspruch, weil viel in unserem Leben passierte und wir bis vor zwei Jahren nicht genügend Zeit darauf verwenden konnten, Nachforschungen und Schreiben zum Ende zu bringen. Alex’ Forschungen waren für dieses Projekt unersetzlich. Er versorgte uns nicht nur mit detaillierten Informationen zu spezifischen Handlungsorten und historischen Tatsachen, sondern setzte z.B. auch die Entfernungen und Reisezeiten in Relation. Er brachte uns wieder auf Kurs, wenn wir begannen, die akkurate Zeitschiene des Romans zu verlassen.

Die Inhalte der Vampirromane haben sich geändert. Haben Sie sich beim Schreiben der Moderne angepasst oder sind Sie dem O-Ton Bram Stokers treu geblieben?

Großartige Frage! Sie sprechen einen zentralen Gedanken unserer Story an. Das war das Rätsel, dem wir uns gegenüber sahen. Während wir den Originalton des Original-Dracula adaptierten, waren Ian und ich der Meinung, dass seine Charaktere ein wenig modernisiert werden mussten. Um Dracula für heutige Leser interessant zu gestalten, verschmolzen wir spezielle Qualitäten, die Dracula im Laufe der letzten hundert Jahre durch andere Schriftsteller und Drehbuchautoren gewonnen hatte.

Welche Rolle spielt Ihr Co-Autor Ian Holt bei dem Roman?

Ian war besessen von Dracula seit er als Junge zum ersten Mal zuhörte, wie Christopher Lee den Roman las. Er ist in erster Linie ein Drehbuchautor, also wurde es sein Traum, eine Filmfortsetzung zu Dracula zu schreiben. Ian nahm mit mir Kontakt über gemeinsame Freunde auf, und wir begannen, unsere Ideen miteinander zu vergleichen. Wir realisierten, dass wir mit einem Roman beginnen müssten, um Bram’s Dracula gerecht zu bleiben. Obwohl wir beide begeistert von der Idee waren, wussten wir dass wir einen Roman nicht auf die leichte Schulter nehmen durften. Wir hatten eine Menge Ideen, aber für Debütautoren war das eine große Herausforderung. Glücklicherweise verfügte Ian neben seiner Fülle von Draculawissen auch über den nötigen Enthusiasmus, um mich durch die Schwierigkeiten und Enttäuschungen der gefühlten tausend Überarbeitungen zu schleifen. Zudem müssen wir uns beide bei Carrie Thornton vom Dutton Verlag für ihre Unterstützung während der Überarbeitungsphase bedanken.
Neben dem co-autorisieren unseres Buches hat Ian zudem mit Alex Galant daran gearbeitet, ein Drehbuch zu »Dracula – The Un-Dead« zu schreiben.

Nun wird »The Un-Dead« auch verfilmt. Kennen Sie bereits die Besetzung? Und können Sie uns über dieses Projekt mehr erzählen?

Frühe Presseinfos ließen es so klingen, als ob bereits ein Filmvertrag unterschrieben und besiegelt wäre, aber das war übertrieben. Wir ziehen noch immer alle Optionen in Erwägung.

Sie bezeichneten Bram Stoker als langweiligen, altbackenen Kerl. Altersbedingt haben Sie Ihren Urgroßonkel aber natürlich nie kennen gelernt. Wurde in Ihrer Familie viel über das bekannte Mitglied gesprochen? Wie haben Sie sich den Autor und Mensch Stoker – abgesehen von den vorhandenen Notizen – näher gebracht, um die Fortsetzung glaubwürdig herüberzubringen?

Ich habe Familiengeschichten über Bram und seine Brüder gehört, die durch meinen verstorbenen Vater und meinen Onkel an mich überliefert wurden. Brams Urgroßenkel, Robin MacCaw, konnte mir einige Details ausführen. Zudem habe ich mir so viel wie möglich über Bram und seine Zeitgenossen angelesen. Es gibt diverse Biographien über Bram – und jede einzelne davon hat mein Hintergrundwissen erweitert. Die Autoren erzählen nämlich nicht alle dieselben Geschichten über Brams Leben. Es gibt einige Widersprüche, die mein Interesse nur noch gesteigert haben.

Ihr Urgroßonkel stammt aus Irland. Ihre Familie hat also eine weite Reise gemacht, bis nach Aiken, wo Sie jetzt mit Ihrer Familie leben. Verbindet Sie noch etwas mit Irland?

Mein Großvater, der einzige Sohn von Brams Bruder, Dr. George Stoker, kam nach Montreal und arbeitete dort als Börsenmakler. Ich wuchs in Montreal auf und zog später nach South Carolina, dem Heimatstaat meiner Frau.

Ich hatte Irland bis zum Mai 2009 – während des Dubliner One City One Book Festivals – niemals selbst besucht. Vor dieser Reise hatten meine Frau Jenne und ich jedoch schon Kontakt mit Stokers Verwandten in Irland und England, und glücklicherweise sind wir in Dublin aufeinander getroffen. Während meiner Zeit dort wurde mir bewusst, dass es überhaupt keine Statue oder Büste von Bram Stoker gibt, weder in einer öffentlichen, noch in einer privaten Sammlung. Also beschloss ich, der Bram Stoker Society dabei zu helfen, eine Kampagne zur Errichtung eines passenden Denkmals ins Leben zu rufen.

Bram Stoker ist ein Vorbild vieler Autoren des Horrorgenres, er wird als Vorreiter der Vampirliteratur gefeiert. Wer Bram Stoker nicht kennt, hat – was die Literatur betrifft – eine Wissenslücke. Er wird geehrt – auch mein verstorbener Kater hieß, in Anlehnung an Ihren Urgroßonkel – Stoker. Wie gehen Sie, gingen Ihre Eltern und der Rest der Familie mit einem solchen Idol in der Familie um?

Es mag die Kanadische Bescheidenheit sein, aber ein Verwandter von Bram zu sein war nichts, worüber die Kanadischen Stokers jemals viel Aufhebens gemacht haben. Mir wurde erst kürzlich bewusst, wie weit und innig Brams Fandom ist.

Nervt es Sie nicht manchmal, einen bekannten Vorfahren zu haben?

Nein, bisher nicht.

»The Un-Dead« ist die Fortsetzung von »Dracula«, wobei Sie den ursprünglichen Titel verwenden, der vom Verlag seinerzeit gestrichen wurde. Bram Stoker erhält sogar eine Rolle im Roman. Das klingt nicht nach einem normalen Sequel, sondern nach einer Hommage und somit einer Ehrung für, von und mit Bram Stoker. Macht es Sie stolz, ein Stoker zu sein?

Ja, ich bin stolz, ein Stoker und mit Bram verwandt zu sein. Es gab andere Mitglieder der Stoker-Familie, die im Laufe der Zeit bekannt in ihrem jeweiligen Berufsfeld waren; etwa in der Medizin, dem Militär, der Architektur, Finanzen, Leichtathletik… und ich bin stolz auf sie alle.

Ian und ich haben Bram als Charakter in unserem Roman aufgenommen, um dem Leser ein Gefühl von Bram als Person zu vermitteln, und nicht nur als das, wofür ihn die Meisten kennen – als den Autor von »Dracula«.

Das Buch erscheint in diesen Tagen, vor welche Schwierigkeiten stellten Sie die Aufzeichnungen Ihres Urgroßonkels beim Schreiben?

Brams Notizen für »Dracula«, die im Rosenbach Museum liegen, wurden während seiner siebenjährigen Recherchen für die Arbeit an dem Roman zusammengetragen. Da er die Notizen für seine eigenen Zwecke schrieb, ist Brams Handschrift oftmals unleserlich. Über Ordentlichkeit scheint er sich niemals Gedanken gemacht zu haben, und die Notizen sind nicht sortiert. Dementsprechend schwierig gestaltete es sich, sie zu lesen und zu verstehen.

Ian und ich waren an Anhaltspunkten interessiert, die dem Lektorat zum Opfer fielen, um diese dann aufzugreifen und auszuarbeiten. Die Tatsache, dass keinerlei Polizeipräsenz in »Dracula« erwähnt wird, kam uns merkwürdig vor. Der Polizeibeamte Cotford, der in Brams Notizen Erwähnung fand, im Roman jedoch ausgelassen wird, passte sehr gut in unsere Absicht eines speziellen Handlungsablaufs.

Wir suchten nach Charakteren und Handlungsideen, die Bram erschaffen aber nicht vollständig entwickelt hatte. Die als Briefe verfasste Erzählweise von »Dracula« brachte uns auf die Idee, dass wir den Tiefgang unserer Story dadurch verstärken konnten, die Hintergründe der Beziehungen zwischen einzelnen zentralen Charakteren als Kulisse zu verwenden.

Glauben Sie dass Ihr Urgroßonkel stolz auf sein Werk und auf das, was es hervorgebracht hat, zurückblicken würde, oder wäre es ihm wohl eher peinlich? Wie würde er Ihrer Meinung nach heutzutage mit seinem Erfolg umgehen, 100 Jahre nach Erstveröffentlichung?

Bram wäre sicherlich fasziniert von der andauernden Popularität von allem was mit Dracula zu tun hat, aber möglicherweise auch enttäuscht von der Richtung, die einige Ableger seines Werks eingeschlagen haben.

Sie haben »Dracula« das erste Mal an der Uni gelesen. Heute haben Sie nicht nur eine Fortsetzung zum Roman Ihres Onkels geschrieben, sondern sind auch der Ehrenpräsident des Internationalen Bram Stoker Film Festivals. Würden Sie zustimmen, dass Sie nun auch mit dem Dracula-Fieber infiziert worden sind?

Sie haben Recht, anstatt weiterzuschlafen scheint Dracula nun Besitz von mir und meinem Leben genommen zu haben.

»The Un-Dead« ist aus einer anderen Motivation entstanden als bei Autoren normalerweise üblich. Werden Sie beim Schreiben bleiben? Haben Sie quasi „Blut“ geleckt? Wenn ja, was können wir von Ihnen in diesem Bereich zukünftig erwarten?

Meinen Sie ein Sequel zum Sequel? Wir haben tatsächlich schon einen Entwurf entwickelt, an dem es bereits ein signifikantes Interesse gibt, aber wir sollten zunächst abwarten wie »Dracula – The Un-Dead« aufgenommen wird, bevor wir das zu weit durchspielen. Ich habe auch einige andere Ideen an denen ich arbeite, die nicht alle mit Dracula verknüpft sind. Mein Pate, Henry Hew Gordon Dacre Stoker, war ein Irischer U-Boot-Matrose, der während des ersten Weltkrieges an die Australische Navy entliehen wurde und das erste U-Boot durch die Dardanellen schiffte. Er vererbte mir seine sehr ausführlichen Notizbücher, und somit die Verantwortung, die Geschichte seines sehr interessanten Lebens zu erzählen. Ich plane, etwas Diesbezügliches zum hundertjährigen Jubiläum des ANZAC Day* zu veröffentlichen. Das ist im Jahre 2012, also sollte ich mich ranhalten!

[* Der ANZAC Day ist der 25. April und wird in Australien, Neuseeland und auf Tonga als Jahrestag der Truppenlandung dieser Länder auf Gallipoli im Jahr 1915 gefeiert. – Anm. d. Übers.]

Ich danke Ihnen herzlich für das Interview und wünsche Ihnen viel Erfolg.


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© Text / Cover: Nicole Rensmann / phantastisch!
© Fotos der Buchcover: Nicole Rensmann

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