Gelesen: »Das gestohlene Kind« von Keith Donohue

Das gestohlene Kind von Keith Donohue bei amazon»Ein Märchen für Erwachsene«, so preist der Verlag Keith Donohues Debüt an. »Ein Kind verschwindet und taucht wieder auf. Niemand merkt, dass es nicht das selbe Kind ist, sondern nur das gleiche.«

Ein Wortspiel, das mich neugierig machte.

Für alle, die Ich-Erzählungen nicht mögen: »Das gestohlene Kind« wird von einem  heranwachsenden Kind und einem Kobold – einem Wechselbalg, wie er sich selbst bezeichnet – erzählt. Aber dieser Roman hat nichts mit den Tolkienschen Kobolden zu tun, sondern erinnert eher an irische Fabelwesen. Und es ist auch keine Geschichte für Kinder, dafür sind Plot, Stil und Erzählung viel zu kompliziert.

Der Leser erlebt zwei Geschichten, die zunächst parallel laufen und sich schließlich mehr und mehr miteinander verzweigen.

Zum Einen ist dort Henry Day, der von zu Hause wegläuft, von den Kobolden entführt, fortan Aniday genannt wird und für ewig in seinem kindlichen Körper gefangen bleibt, jedoch innerlich altert und gegen sein Dasein als Wechselbalg kämpft. Er sehnt sich nach seiner Mutter und seinen beiden Zwillingsschwestern, er bereut es längst weggelaufen zu sein, und er leidet darunter, dass er so vieles vergisst – so vieles, an das es sich zu erinnern lohnt.

»Was das Gedächtnis vergisst, erschafft die Phantasie neu.«

Die andere Geschichte erzählt Henry Day, der einst ein Wechselbalg war und den Platz des wahren Henry Day eingenommen hat. Am Anfang wirkt er wie ein Kuckucksküken: Fett und mit vollem Bewusstsein reißt er Henry Days Leben an sich.

Er genießt die Liebe seiner neuen Mutter und erinnert sich daran, dass auch er vor vielen Jahren eine Mutter hatte. Eine richtige, seine wahre Mutter. Aber er weiß nicht, wer er wirklich war. Denn schon vorher hatte er ein Leben, ein Leben bevor er zum Wechselbalg wurde. Und langsam verändert sich der Kobold – der Elb – in das Wechselbalg Henry Day.

Nicht nur äußerlich – was ihn große Anstrengungen kostet, denn er wächst nicht von selbst; er muss unter starken Schmerzen heranwachsen, sich dehnen und strecken. Dabei vergisst er jedoch ein winziges Teil, das ihm bei seiner ersten Liebesnacht zu einer peinlichen Offenbarung wird.

Dieser Henry Day ist ein Musiktalent, ein Talent, das ihm in die Wiege gelegt wurde vor über hundert Jahren. Zudem entwickelt er eine Angst vor seiner Vergangenheit und den anderen Wechselbälgern. Aber diese Eigenschaft, die der wahre Henry Day nicht besaß, bevor er fortlief, entlarvt ihn nicht. Nur der Vater ist misstrauisch, was ihn – durch eine verhängnisvolle Begegnung – schließlich zum Selbstmord treibt.

Im Laufe der Zeit, in der der neue Henry Day zum Mann wird, heiratet und Vater wird, und der alte Henry Day gegen das Gefühl kämpft, ein Mann in einem Kinderkörper zu sein, überschneiden sich die Wege der Beiden. Und es kommt zur Konfrontation.

Hingerissen zwischen Hoffnung, Faszination und Entsetzen las ich Keith Donohues Debüt.

So gern hätte ich den wahren Henry Day zu seinen Eltern zurückgebracht, als er darüber nachdachte, dass seine Familie nun ohne ihn leben musste und noch nicht ahnte, dass längst jemand Anderes seinen Platz eingenommen hatte. Unsympathisch war mir dieses Wechselbalg zu Beginn – und wuchs mir im Laufe der Erzählung ans Herz, hatte er doch nur versucht, wieder Wärme und Liebe zurückzuerlangen.

Wie schön zu lesen, dass es noch Kobolde mit Stil und Gefühl gibt, obwohl hier nicht Freundschaft und Zusammenhalt als einziges zählen – auch Hass, Wut und Gewalt gehören auf erschreckende Weise in den Clan der Wechselbälger.

»Das gestohlene Kind« ist ein herausragendes Werk, das hervorsticht aus den hausüblichen Fantasyschwarten. Es ist eine Mahnung an Kinder, nicht wegzulaufen, und eine an die Eltern, ihre Kinder nicht zu vernachlässigen oder aus den Augen zu lassen. Und ein bisschen Trost für alle Eltern, deren Kinder auf unerklärliche Weise verschwunden sind.

Keith Donohues Stil ist filigran, mit schlanken Fingern geschrieben, einfühlsam. Zu Beginn ein wenig holprig, manchmal wunderschön verschnörkelt. Es gelingt ihm, über 445 Seiten eine Magie aufrecht zu erhalten, wie es mir bisher bei nur wenigen Büchern begegnet ist.

Ein Märchen um den Mythos des Wechselbalgs.

Keith Donohue hat mit »Das gestohlene Kind« meine Seele berührt.

Er lebt mit seiner Familie in Maryland. Laut Verlag soll »Das gestohlene Kind« demnächst verfilmt werden und der Autor an einem neuen Buch arbeiten.

Keith Donohue
Das gestohlene Kind
(Originaltitel: »The Stolen Child«)
Übersetzer: Sabine Herting
Bertelsmann Verlag
Hardcover, 448 Seiten
ISBN 9783570009369
19,95 Euro

Diese Rezension steht auf folgenden Websites:

www.schreib-lust.de

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