Gelesen: »Sunset« von Stephen King


sunsetAnthologien mit Geschichten unterschiedlicher Autoren verkaufen sich schlecht. Doch Bücher, in denen Erzählungen eines Autors wie Stephen King zusammengefasst sind, finden zumindest bei den Fans und Kingschen Gewohnheitslesern reißenden Absatz. Aber ob sich »Sunset« für Leser darüber hinaus lohnt?

Willa

Erster Satz: »Du siehst nicht mal, was du direkt vor Augen hast, hatte sie gesagt, aber manchmal sah er es doch.«

Zu Beginn ist nicht klar, warum Willa gegangen ist, warum all die anderen Leute dort sind, wo auch immer das sein mag. Ein Zug soll entgleist sein. David, der seine Verlobte Willa finden will, wird von allen zurückgehalten. Doch David hört nicht auf sie und geht.

Und das was sich durch viele, versteckte Bemerkungen und Ungereimtheiten andeutete, wird mehr und mehr Gewissheit.

Eine nette Geschichte über unterschiedliche Wahrnehmung, aus der man aber sicher mehr hätte machen können.

Das Pfefferkuchen-Mädchen

Erster Satz: »Nachdem das Baby gestorben war, fing Emily mit dem Laufen an.«

Em kommt nicht mit dem Tod ihres Kindes klar. Sie beginnt zu joggen, zu laufen, zu rennen, immer mehr, immer weiter, bis sie schließlich vor ihrem Mann und vor sich selbst und den Problemen wegrennt. Sie lebt ab sofort allein auf einer Insel, in dem kleinen Ferienhaus ihres Vaters. Sie isst wenig und falsch, läuft dafür umso mehr zu jeder Tageszeit. Dann erhält sie eine Warnung vor einem Nachbarn, den sie noch nie wahrgenommen hat und besser auch nicht hätte …

Was wie eine Problemgeschichte beginnt, die durchaus auch ähnlich und schockierend hätte enden können, wird als Thriller weitergeführt. Stephen King transportiert den Psychopathen aus »Love« oder eine moderne Version von Jack Torrance aus »Shining« in seine Geschichte.

»Das Pfefferkuchen-Mädchen« bietet Alltagshorror auf unterschiedlichen Ebenen und mit einer großen Portion Weisheit, die sich aber erst am Ende erschließt: Aus jedem Scheiß kannst du etwas Gutes ziehen.

Spannung mit überraschender Wendung!

Harveys Traum

Erster Satz: »Janet dreht sich von der Spüle um, und rums!  sitzt der Mann, mit dem sie seit fast dreißig Jahren verheiratet ist, in weißem T-Shirt und Big-Dog-Boxershorts am Küchentisch und beobachtet sie.«

Janet und Harvey leben nebeneinander, weil das nach dreißig Jahren Ehe so sein muss. Janet interessiert sich erst wieder für Harvey, als er von seinem Traum erzählt. Sie will den Inhalt des Traumes nicht hören, kann aber den Worten ihres Mannes nicht entrinnen. Und hier wird klar, dass Träume auch in Erfüllung gehen können. Nur, dass es sich nicht um einen Traum, sondern einen Alltags-Albtraum handelt.

Kurze, etwas oberflächliche Geschichte.

Der Rastplatz

Erster Satz: »Irgendwo zwischen Jacksonville und Sarasota musste er wohl eine literarische Version der alten „Clark Kent in der Telefonzelle“-Nummer abgezogen haben, auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, wo und wie.«

Er ist eigentlich Englischlehrer, aber der Traum vom Schriftsteller ist so groß, dass er seinen Job an den Nagel hängt und einen Thriller schreiben will. Damit hängt er seinen alten Namen neben seinen Job und lebt unter Pseudonym.

Als er mit dem Auto unterwegs ist, muss er dringend zur Toilette. Er hält an und wird „Ohren“-Zeuge dabei, wie ein Mann seine Frau verprügelt.

Die Story fängt etwas verworren an, wird dann aber zu einem interessanten Mix aus Zivilcourage und Schizophrenie.

Der Hometrainer

Erster Satz: »Eine Woche nach der ärztlichen Untersuchung, die er schon ein Jahr lang vor sich hergeschoben hatte (genau genommen waren es drei Jahre, worauf ihn seine Frau hingewiesen hätte, wenn sie denn noch am Leben gewesen wäre), wurde Richard Sifkitz von Dr. Brady zu einem Termin gebeten, um die Ergebnisse zu besprechen.«

Sifkitz, ein übergewichtiger Künstler, hat schon lange kein eigenes Bild mehr gemalt. Nach dem oben erwähnten Arztbesuch kommt ihm jedoch eine Idee, die er gleich mehrmals umsetzt. Und dabei macht er – und seine Gemälde – eine seltsame Wandlung durch.

In Romanen wie »Rose Madder« oder »Wahn« hat Stephen King ein Gemälde und / oder einen Maler bereits als zentrale Schlüsselfigur verwendet. Und auch in der Kurzgeschichte »Der Straßenvirus zieht nach Norden« behandelte er ein ähnliches Thema.

»Der Hometrainer« ist jedoch keine Horrorstory, vielmehr eine sehr tiefsinnige und zweideutige Geschichte, mit einer witzigen Pointe, die mir – auch wenn der Protagonist mir nur oberflächlich interessant erscheint – gut gefallen hat. Ähnlich wie in »Wahn« verfällt der Künstler seinem eigenen Werk, jedoch wirkt er dabei nicht ganz so fanatisch, zumal der Auslöser ein banaler ist und das Hilfswerk nichts anderes als »Der Hometrainer« und …. Aber lest doch selbst!

Hinterlassenschaften

Erster Satz: »Die Dinge, von denen ich erzählen möchte – diejenigen, die sie hinterlassen haben –, tauchten im August 2002 in meiner Wohnung auf.«

Mr. Staley hat ein Geheimnis, das ist klar. Nur welches, das wird uns erst im Laufe der Geschichte offenbart. Und: Wer könnte auf die Idee kommen in seine Wohnung Accessoires zu legen, die einst … ja wem eigentlich … gehört haben?

Filmfans dürften ihren Spaß an der Story haben, denn es gibt immer wieder Zitate oder Szenenvergleiche aus Filmen.

Doch das zentrale Thema ist der 11. September. Meisterlich gelingt es Stephen King das Attentat, Schuldgefühle, Erinnerungen und einen Hauch Grusel aus dem Jenseits in Szene zu setzen. Eine Geschichte, die – nicht nur wegen des Themas – noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Die beste Geschichte im Band.

Abschlusstag

Erster Satz: »Bis heute hat Janice kein passendes Wort für den Ort gefunden, an dem Buddy lebt.«

Der »Abschlusstag« ist mit 8 Seiten die kürzeste Geschichte in »Sunset«, erzählt aus der Sicht eines jungen Mädchens, die die Abschlussfeier bei der Familie ihres Freundes, den sie mag, aber nicht liebt, miterlebt. Nichts weist auf einen besonderen Schrecken hin, bis sie …

Aber das kann ich nicht verraten, denn dann wäre die Geschichte schon zu Ende erzählt.

Fazit: Gute Kurzgeschichte mit einem brutalen Ende.

N.

Erster Satz: »Lieber Charlie, es kommt mir seltsam und zugleich ganz natürlich vor, mich so an dich zu wenden, obwohl ich bei unserer letzten Begegnung nur halb so alt war wie heute.«

Mit dieser Geschichte kehrt Stephen King nach Castle Rock zurück. Die Zwangsstörungen eines Patienten entpuppen sich als Virus und ziehen sich bis zum Ende der Geschichte hin.

Obwohl Stephen King behauptet, die Story wäre stark von Arthur Machens »Der große Pan« beeinflusst, scheint sie auch Züge von H. P. Lovecrafts Erzählungen zu beinhalten.

Und, obwohl die Geschichte spannend ist, erahnt man das Ende bereits nach den ersten Seiten.

Die Höllenkatze

Erster Satz: »Halston fand, dass der alte Mann in dem Rollstuhl krank, verängstigt und dem Tod nahe aussah.«

Während »N.« Stephen Kings neueste Geschichte war, gehört »Die Höllenkatze« in diesem Band zu einer seiner ältesten Storys.

Ein Killer erhält den Auftrag eine Katze zu töten.

Was ihm lächerlich vorkommt, entpuppt sich bald als unmöglich.

Hier wird schnell deutlich, wie King sich mit seinen Erzählungen weitergedreht hat. »Die Höllenkatze« ist blutig, gruselig, ekelig. Horror auf anderer Ebene, eine, die Stephen King hinter sich gelassen hat.

 

Die New York Times zum Vorzugspreis

Erster Satz: »Sie kommt gerade aus der Dusche, als das Telefon klingelt, doch obwohl das Haus noch voller Verwandter ist – sie kann sie unten hören, irgendwie wollen sie nicht mehr weggehen, irgendwie waren es noch nie so viele –, reagiert keiner.«

Anne hat gerade ihren Mann durch einen Flugzeugabsturz verloren. Bei der Trauerfeier erhält sie einen Anruf – der nur für sie bestimmt ist.

Kurz, nett, aber ohne neue Idee.

Stumm

Erster Satz: »Es gab drei Beichtstühle.«

Diese Story, in der ein geprellter Ehemann gleich zweimal beichtet, wobei der eine »Beichtvater« ein angeblich taubstummer Anhalter ist, gehört mit zu den schwächsten Geschichten in dem Band.

Ayana

Erster Satz: »Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Geschichte einmal erzählen werde.«

Doch es ist gut, dass er diese Geschichte erzählt hat, denn sie liest sich gut – über Wunder, Wundergebende, Küsse an Totgeglaubten und Widerbelebten.

Fazit: Lesenswert schön.

In der Klemme

Erster Satz: »Curtis Johnson fuhr jeden Morgen fünf Meilen mit dem Fahrrad.«

Schuld an allem ist natürlich nur das Arschloch von Nachbar, das einen elektrischen Zaun errichtet hat, an dem der 15 Jahre alte herzkranke Hund von Curtis starb.

Früher waren sie Freunde und Nachbarn. Jetzt gibt es da nicht mehr außer Hass.
Nur wer hier Hass auf wen hat, scheint irgendwie irrational. Verrückt sind beide, auf ihre Weise, nur der eine zieht es durch. Und so landet Curtis schließlich im wahrsten Sinne des Wortes in der Scheiße.
Stephen King hat hier eine seltsame Story zusammengestrickt, nur um einen bestimmten Ekeleffekt und eine besondere Vorstellung zu erzeugen. Eine – sorry, Steve – Anfängergeschichte, die dem Band einen mehr als unsauberen Nachgeschmack gibt.

Schlussworte:

Mit diesem Sammelband beweist Stephen King, dass er den Titel »Meister des Horrors« längst abgelegt hat. Das allein ist nicht tragisch, doch in »Sunset« finden sich nur sehr wenige Perlen wieder, die einem – so wie Stephen Kings es am Ende hofft – in Erinnerung bleiben werden.

Leider sein schwächster Kurzgeschichtenband. Aber für Nicht-Stephen-King-Leser durchaus empfehlenswert!

Die Fans werden sich daran gewöhnen müssen, dass sich die Welt und Stephen Kings Schreibe weiterdreht.

Erwähnen möchte ich jedoch noch das für Stephen King typische Vorwort, in dem er seine Leser anspricht. Und die Entstehungsgeschichten zu den Geschichten am Ende des Buches – Mit das Beste an »Sunset«.

 

Stephen King
Sunset
(Originaltitel: »Just After Sunset«)
Übersetzungen: Wulf Bergner, Karl-Heinz Ebnet, Sabine Lohmann, Friedrich Mader, Hannes Riffel
Heyne Verlag, November 2008
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
480 Seiten
ISBN 9783453266049
19,95 €

 

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© Text: Nicole Rensmann
© Cover: Heyne Verlag

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