Zum Welt-Alzheimer-Tag schenke ich dir eine Geschichte: »Ein traumhaft schöner Tag«

Heute, am 21.09.2019, ist Welt-Alzheimer-Tag. Dieser Tag soll auf die Probleme von Demenz und Alzheimer aufmerksam zu machen.

Vor einigen Jahren habe ich eine Geschichte geschrieben, die sich mit der Thematik beschäftigt.
Hier im Blog kannst du die Geschichte nachlesen.
Für Patron*innen auf patreon.com habe ich die Geschichte eingelesen und als mp3-Datei online gestellt.

Ein traumhaft schöner Tag

von Nicole Rensmann

Seit einer Stunde schaute Eva aus dem offenen Fenster  – die Ellenbogen auf das Fenstersims gestützt, das Kinn auf die Handflächen gebettet – und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Sie seufzte glücklich. Im Hinterhof spielten die Kinder aus dem mehrstöckigen Nachbarhaus mit dem kleinen braunen Mischlingshund, der dem Hausmeister vor vier Tagen zugelaufen war. Welchen Namen hatten sie ihm gegeben? Rosi? Ach, es war ja ein Männchen, hatte ihr der Briefträger erzählt. Rudi.

Rudi hatten die Kinder den Hund getauft und jede Menge Spaß mit ihm. Schon gestern hatte Eva der bunten Schar zugeschaut, die aus zwölf Kindern von drei bis – geschätzten – fünfzehn Jahren bestand. Jungen und Mädchen gemischt.

Doch heute wollte Eva nicht länger zusehen, die Sonne lockte sie nach draußen. Sie wäre auch bei schlechtem Wetter gegangen, denn heute traf sie sich mit Peter. Zwei Jahre und drei Monate – auf den Tag genau – gehörten sie fest zusammen. Und sie ahnte, heute machte er ihr einen Antrag. Sie hoffte seit Wochen darauf.

Eva hatte das geblümte Sommerkleid angezogen. Der V-Ausschnitt und der weite Glockenrock, der bis zu den Knien reichte, schmeichelten ihrer Figur. Nun, sie war nicht dick, aber ein bisschen üppig ausgestattet. Peter mochte ihre Rundungen. Eine Jacke brauchte Eva nicht. Der Sommer schenkte in diesem Jahr reichlich Sonne und warme Temperaturen.

Leise öffnete Eva ihre Tür, sie wollte keinen der Bewohner im Haus stören. Die Wände waren dünn, auf dem langen, kahlen Flur schallte jeder Schritt. Eva trug ihre feinen schwarzen Riemchenschuhe in der Hand, als sie die Tür schloss und geräuschlos, beinahe unsichtbar, und mit klopfendem Herzen, erfüllt mit Vorfreude auf ihren Liebsten, über den Flur huschte. Barfuß. Sie unterdrückte ein Kichern.

Die Aufzugtüren standen einladend offen, doch Eva fuhr nie mit dem Aufzug, sie wählte die Treppe. Gut für die Fitness und einen straffen Po.

Eva lächelte. Sie freute sich sehr auf Peter, seine Arme, die sie festhielten, und sehnte sich nach seinen Küssen, die sie spüren wollte. Überall.

Bei den spielenden Kindern blieb Eva kurz stehen, das Hundegebell klang nun lauter und das Lachen der Kinder klarer. Beides war schön anzuhören. Sie liebte Kinder. Sie wollte selbst welche. Vier. Zusammen mit Peter.

Eva sah sich um, setzte sich auf eine Bank und versuchte, ihre Schuhe anzuziehen. Die Schnallen waren ausgeleiert und Eva musste sich alle Mühe geben, die Riemchen festzuzurren. Es waren ihre Lieblingsschuhe, Eva hatte sie häufig getragen.

»Brauchst du Hilfe?«

Eva zuckte zusammen. Ein Mädchen hatte sich aus der Gruppe gelöst und stand direkt vor ihr. Ihre dürren Beinchen steckten in roten Gummistiefeln. Es trug eine rote Strumpfhose und einen karierten Rock. Eva hatte es nicht kommen sehen, zu sehr war sie mit den Schuhen beschäftigt gewesen. Sie fühlte sich ertappt.

Das Mädchen trug ihre Haare bis zu den Schultern, ihre Augen waren blau wie Seen und sie hatte Sommersprossen rund um die Nase, die ihr ein keckes Aussehen verliehen. Ein hübsches kleines Ding. Ihr Gesicht war feucht. Hatte sie geweint?

»Ach, nein, Kleines, das schaff ich allein. Ich treffe mich gleich mit meinem Liebsten, musst du wissen. Ich glaube, er wird mir einen Antrag machen.« Eva blinzelte dem blonden Mädchen verschwörerisch zu. Endlich konnte sie ihr Geheimnis erzählen.

»Ehrlich?«, fragte das Mädchen.

Eva nickte.

Das Mädchen rannte zurück zu ihren Spielkameraden und brüllte: »Die da hinten heiratet, hat sie gesagt.« Alle schauten zu Eva hinüber und lachten.

Sie freuten sich. Eva winkte ihnen zu.  

Die Schuhe saßen fest und Eva machte sich auf zum Park, wo sie Peter treffen würde. Unter den Linden, am unteren Rosenfeld, dort hatten sie sich für heute verabredet.

***

Seit Tagen regnete es, der Herbst brachte feuchtes Laub und kalte Temperaturen, die in der Nacht den Gefrierpunkt erreichten. Zu kalt und ungemütlich für einen Spaziergang bei Tag, und viel zu gefährlich für eine nächtliche Exkursion.

Vater starrte aus dem Fenster. Dicke Regentropfen trommelten wie ein zu schneller Puls gegen die Scheibe. Ohne jeglichen Wettbewerbsansporn: Sein Puls gewann.

Im Urlaub waren sie viele Stunden gewandert, bei Tag und bei Nacht. Bei Sonne, bei Regen, im Sommer, im Herbst. Gemeinsam hatten sie die Natur erforscht, Berge erklommen, sich in Tälern ausgeruht und den Schmetterlingen und Bienen beim Fliegen zugesehen. Diese Leichtigkeit des Lebens. Vorbei. Sein Herz fühlte sich wie ein aus Blei gegossener Klotz an. Alles vorüber. Er hätte sie niemals gehen lassen dürfen.

***

Evas Herz klopfte schnell und der Gedanke an ihren liebsten Peter und seine Küsse ließ ihren Puls rasen. Sie ging flott, denn Eva wollte keine Zeit verlieren. Noch zwei Straßen, dann würde sie den Park sehen können. Ungeduldig blieb sie am Bordstein stehen, gestoppt durch rotes Licht. Die Ampel war neu, Eva wartete hier zum ersten Mal.

Die Sonne brannte heiß. Feuchtigkeit bildete sich auf ihrer Stirn, sie wischte sich hastig darüber. Schweiß schickte sich nicht für eine junge Braut – in spe. Sie kicherte. »Oh bitte, beruhige dich«, redete sie vor sich hin, ein wenig zu laut. Der ältere Herr neben ihr musterte sie, er lächelte und nickte ihr zu, tippte an seine Hutkrempe. Gesten, die Eva aufdringlich und befremdlich erschienen. Ältere Männer sollten jungen Damen nicht zunicken und sie anlächeln.

Das blonde Mädchen stand mit seiner Mutter nur wenige Schritte von Eva entfernt. Sie mussten kurz nach Eva den Hinterhof verlassen haben. Wie einige der anderen Wartenden trugen sie einen Schirm. Eva liebte die Sonne und konnte nicht verstehen, warum sich alle davor schützten. Sie mochte das Kitzeln auf der Haut und die Wärme, die sich vom Kopf bis in die Zehenspitzen ausbreitete. Als das blonde Mädchen Eva entdeckte, zupfte sie an der Hand ihrer Mutter, die sich daraufhin zu ihr hinunterbeugte. Das Mädchen flüsterte der Mutter ins Ohr. Beide schauten Eva an, das Mädchen mit großen Augen, die Mutter mit einem wundersamen Lächeln auf den Lippen.

Endlich sprang die Fußgängerampel auf grün um. Eva zögerte nicht, sie wollte den alten Mann abhängen und Peter nicht warten lassen. Ohne auf die Straße zu achten, trat sie auf die Fahrbahn, rutschte mit dem Absatz auf einem kleinen Stein aus und knickte mit dem rechten Fuß um. Ein Schmerz zuckte durch ihr Bein. Sie ungeschicktes Ding. Nur der feste Griff am rechten Oberarm bewahrte sie vor einem Sturz.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein junger Mann. Er hatte  haselnussbraune Augen und schwarzes Haar, wie Peter.  

»Es geht schon. Vielen Dank.«

Doch das Auftreten fiel Eva schwer.

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Kann ich Sie nach Hause begleiten?«

***

Der Regen ließ nach. Doch das änderte nichts. Der Blick durch die Fensterscheibe blieb verschwommen. Tränen, unendliche viele davon, die nicht mehr versiegen wollten.

Sie hatten sie gefunden. Hinter einem Gebüsch im aufgeweichten Laub. Fünf Tage nachdem sie das Haus verlassen hatte. Ihr Blumenkleid, in dem sie bezaubernd ausgesehen hatte, klebte an der kalten Haut. Der Regen hatte alles durchnässt. Von den schwarzen Riemchenschuhen trug sie nur noch einen, den anderen musste sie verloren haben. Er blieb verschwunden. Ihre Lieblingsschuhe, sie hatte sie häufig getragen.

Sie sah noch immer wunderschön aus, obwohl ihre blauen Augen geschlossen und ihre Haare nass und zerzaust am Kopf hafteten. Eva war das hübscheste Ding, das er je gesehen hatte.

Alle hatten versucht, ihn daran zu hindern, doch er musste sie ein letztes Mal sehen, auch wenn sie ihre Augen – blau wie Seen – nie wieder öffnen würde. Und nun bekam er dieses Bild nicht mehr aus seinem Kopf. Wie sie dort lag, das rechte Bein angewinkelt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, das Gesicht zum Himmel gerichtet, wie schlafend.

Sie wollten ihn fahren, er hatte sich geweigert. Er musste zu Fuß gehen. Der Regen durchnässte ihn bis auf die Haut. Sein Gesicht von Tränen nass. Er wollte laufen, laufen, laufen, musste gehen, gehen, gehen. Und wünschte sich nur, mit ihr gegangen zu sein.

***

Der junge Mann stützte Eva mit dem nötigen Taktgefühl, ohne aufdringlich zu sein oder sie an unpassenden Stellen zu berühren. Auf der anderen Seite der Straße wollte sie sich verabschieden, doch der junge Mann blieb hartnäckig.

»Sie können kaum laufen. Ich kann Ihnen ein Taxi rufen, das bringt Sie nach Hause. Besser noch zu einem Arzt.« Er schien aufrichtig besorgt.

»Nein, nein, das ist nicht nötig. Ich bin fast da. Ich treffe meinen Verlobten, im Park. Wissen Sie, wir werden heiraten.«

Nun hatte Eva ihrer Hoffnung vorgegriffen, aber sie wollte keine falschen Erwartungen wecken.

Doch er schien weder überrascht noch abgeschreckt: »Dann gratuliere ich herzlich. Damit Sie pünktlich da sind, schlage ich Ihnen vor, Sie bis zum Eingang des Parks zu begleiten. Geben Sie mir Ihren Arm.«

Eva widersprach nicht, legte ihren Arm um seine Schulter und ließ sich helfen. Schließlich wollte sie Peter – ihren Liebsten – nicht länger warten lassen.

***

Sie hatten sie gesucht. Die Polizei, die Hunde, die Nachbarn, die Kinder, das Personal. Alle. Am fünften Tag wurde sie zufällig von einer Spaziergängerin entdeckt. »Zufällig«, hatte die Polizei gesagt. Warum hatten sie nicht zufällig fünf Tage vorher dort nachgesehen? Die Polizei, die Hunde, die Nachbarn, die Kinder, das Personal und die Spaziergängerin. Warum nicht?

Sie hätten die Türen abschließen müssen. Das Personal. Er hätte nie auf sie hören sollen. Die Kinder, das Personal, die Nachbarn. Er hätte auf sie aufpassen sollen, wie er es ihr versprochen hatte. Er würde es nie wieder gut machen können.

***

Am Eingang des Parks verabschiedete sich der junge Mann von Eva. Sie bedankte sich lächelnd. Es war ihr unangenehm, von einem jungen, attraktiven Mann zu ihrem Rendezvous begleitet worden zu sein. Doch dank seiner Hilfe war sie schneller vorangekommen und konnte Peter bald in die Arme fallen. Zu ihrem Treffpunkt im Park humpelte sie allein weiter. Eva drehte sich ein letztes Mal um. Der junge Mann winkte. Sie winkte zurück.

***

Als er sie das erste Mal sah, trug sie ein Blumenkleid, das blonde, lange Haar wehte im Sommerwind, die blauen Augen strahlten – blau wie die See. Sie sah bezaubernd aus. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Wenn sie nicht mit dem Fuß umgeknickt wäre, er nicht zufällig hinter ihr gestanden und sie gestützt hätte, dann hätten sie sich nie kennengelernt. Vielleicht würde sie dann noch leben.

***

Ein junges Pärchen kam ihr entgegen, Hand in Hand rannten sie durch den Park, als seien sie auf der Flucht. Eine ältere Dame ging mit raschen Schritten an Eva vorbei, ihr Gesicht tief unter einem Schirm versteckt. Und dort, der Mann mit dem kleinen schwarzen Hund – seine Kappe schirmte ihn von allem Schönen ab. Eva schüttelte den Kopf. Warum mieden die Leute die Sonne? Sie war doch herrlich. Eva lächelte. Ihr Herz schlug schneller. Dort stand Peter, er drehte ihr den Rücken zu und betrachtete die Rosen, die in glühenden Farben – rot, gelb und weiß – prächtig wuchsen. Sein dichtes, schwarzes Haar hatte er ordentlich zurückgekämmt, er trug einen beigefarbenen Anzug. Ein feiner Herr. Ihr Herr. Der Kies unter ihren Schuhen knirschte. Doch Peter hörte sie nicht. Als Eva hinter ihm stand, umschlang sie seine Taille.

»Da bin ich, Peter.«

Endlich drehte er sich um.

Doch das war nicht Peter. Vor ihr stand ein Mann, ein Fremder. Sein Haar war schwarz, das sich in der Stirn lichtete, er trug eine Brille, der Anzug war der eines Straßenarbeiters. Dieser Mann war nicht Peter. Was hatte er hier, an ihrem Treffpunkt zu suchen?

Er schüttelte den Kopf und während er sich von Eva entfernte, schimpfte er leise über die bescheuerte Alte.

Sie blieb einen Moment stehen und starrte hinter dem Fremden her.

Peter war noch nicht da. Sie wartete. Er kam nicht.
Ihr Gesicht fühlte sich nass an. Sie weinte. Ihr Tränen vermischten sich mit Regentropfen. Der Boden war vom tagelangen Regen schlammig. Der Park war leer. Eva war allein. Der Regen tropfte in den Ausschnitt, an den Armen und Beinen entlang und durchweichte ihre Lieblingsschuhe. Wo war sie? Eva erinnerte sich nicht. Wie war sie hierhergekommen?

Eva rannte durch den Park und rief nach Peter. Warum versteckte er sich vor ihr?

Sie ging und ging und ging. Als Eva müde wurde, legte sie sich in das weiche Laub und wartete, mit dem Blick zur Sonne. Eva liebte die Sonnenstrahlen, die auf ihrer Haut kitzelten. Peter würde kommen und sie abholen.

***

»Kommst du, Vater?«

Er griff nach seinem Stock, der am Fenstersims lehnte. Marie, seine älteste Tochter hatte ihn mit Rosen geschmückt – rote, gelbe, weiße – wie die im Park, die nicht weit von der Stelle entfernt standen, an der die Spaziergängerin sie gefunden hatte.

Vor der Haustür warteten Horst und Hans, ihre Söhne. Und Monika, die jüngste Tochter. Sie warteten auf ihn.

Er wartete auf sie – vergeblich.

***

Zu Beginn der Krankheit kehrte Eva vom Einkaufen nicht zurück. Dann suchte er sie. Wenn er sie nicht fand, bat er um Hilfe. Die Polizei, die Kinder, die Nachbarn.

Er flehte sie an, nicht allein in die Stadt zu gehen. Sie begann zu wandern, erst im Haus umher, dann im Garten entlang. Sie konnte nicht stillsitzen. Doch dann verließ sie das Grundstück, sie vergaß, dass der Zaun die Grenze des Gartens darstellte. Sie erinnerte sich nicht an den Rückweg. Sie ging geradeaus, mal den einen, dann den anderen Weg. Ohne System, Hauptsache gehen. Bei Regen, bei Sonne, bei Schnee. Eine Weile sperrte Peter sie ein, doch ihr Zustand verschlechterte sich. Er hatte nicht mehr die Kraft auf sie aufzupassen. Die Kinder, die Nachbarn und die Polizei, die vermehrt nach ihr suchen mussten, überredeten ihn. Er ließ sie allein, in einem Heim. Wenn er sie besuchte, wusste sie nicht, wer er war, aber sie hörte ihm interessiert und geduldig zu, wenn er von ihrem gemeinsamen Leben erzählte. Und gab es ein trauriges Kapitel, fand sie die richtigen Worte, die ihm Mut machen sollten, dabei vergaß sie, dass sie die Hauptperson seiner Geschichte war. Eva war die Protagonistin seines Lebens. Fortgeschrittene Demenz, sagten die Ärzte. Sie vergaß ihre Kinder und ihre Liebe, nur das Leuchten in ihren Augen – blau wie Seen – blieb.

»Du siehst die Sonne, auch wenn es regnet«, hatte Peter zur ihr gesagt, damals im Park, unter den Linden, am unteren Rosenfeld, als er Eva einen Heiratsantrag gemacht hatte. Vor 60 Jahren, 2 Monaten und 3 Tagen.

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