Nicole Rensmann »Gewebewelten«

16,90 

Hardcover
Atlantis Verlag 2020
ISBN 978-3-86402-700-0
260 Seiten

Cover: Timo Kümmel

Auch als E-Book erhältlich. 

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Beschreibung

Nicole Rensmann

Gewebewelten

Zwei Mädchen, drei Jungs – fünf unterschiedlichste Charaktere und eine Aufgabe, die sie gemeinsam bewältigen müssen. Bei der Aufräumaktion im Archiv finden sie einen Teppich, der sie zwingt, die Wahrheit zu sagen und die Teenager in seine Welt zieht – eine Welt, die nur durch die eigenen Gedanken existieren kann. Das stellt sie vor eine Herausforderung, denn Timo ist ein arroganter Arsch, Lisa eine Zicke, Tobias isst unentwegt Süßigkeiten, René ist blind und Jana hat Diabetes. Niemand weiß, wie sie dieses Abenteuer lebend überstehen sollen. Aber sie sind nicht allein, Mysterkilus Secritunum, ein alter weiser Mann, einst Hüter der Magie, lebt mit seinem Drachen Pedenius schon lange in der Teppichwelt. Doch seitdem die Teenager in seine Gedankenblase eingedrungen sind, ist nichts mehr, wie es war. Und da sind noch die Handlanger des Todes, die Myst verfolgen, um seinen Lebensfaden zu durchtrennen.

Ein packendes Fantasy-Abenteuer mit überraschenden Wendungen und einem Drachen, der einst ein Kater war. Für Leser ab 12 bis mindestens 101 Jahre.

Leseprobe Kapitel 1 & 2

Jana öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Schwärze. Sie hörte ihren Atem und hielt die Luft an. Stille. Der Geschmack von Blut brachte ihre Erinnerungen langsam zurück. Lisa hatte ihr einen Kinnhaken verpasst. Dabei hatte sich Jana auf die Zunge gebissen und war anschließend ohnmächtig geworden.

»Hört mit dem Mist auf, das ist nicht witzig!« Ihre Stimme klang ängstlicher als sie es beabsichtigt hatte, ihre Zunge schmerzte bei jedem Wort. Kein Raunen, kein Kichern. Sie hatten das Licht ausgeschaltet und Jana im Keller zurückgelassen. Oder sie versteckten sich im Dunkeln, hielten sich die Münder zu und unterdrückten einen Lachanfall. Kinderkram! Vorsichtig betastete sie ihr schmerzendes Kinn. »Danke, Lisa«, flüsterte sie verärgert.

Jana stand auf. Der Boden schwankte, ihr wurde übel. Sie suchte Halt, doch da war nichts.

Sie tastete sich voran, fand weder Wände noch Regale. Gänsehaut kribbelte auf ihren Armen. Sie erschauderte vor Angst. Jana unterdrückte den Drang zu schreien. Im Geiste hörte sie das Gelächter, das sie zur Begrüßung empfangen würde, sobald sie panisch aus dem Raum stürzte. Vielleicht hockten sie auch vor der Tür und warteten nur darauf, dass sie um Hilfe schrie. Doch diese Freude wollte Jana ihnen nicht machen.

 

Lisa war eine hinterhältige Zicke. Nur sie konnte auf die Idee gekommen sein, Jana im Keller einzusperren. Nicht ohne die Hilfe von Timo, dem arroganten Schulsprecher, den Lisa vergötterte. Er ging mir ihr. Oder sie mit ihm. Das war keine eindeutige Beziehungskonstellation, in jedem Fall keine Liebe. Tobias hatten sie vermutlich mit Schokolade bestochen, damit er sie nicht verpfiff. Für Süßkram würde der von einer Brücke springen. Aber dass René bei solchen Spielchen mitmachte, war überraschend. Zusammen waren sie dazu verdonnert worden, den Archivraum aufzuräumen und zu streichen. Eine Strafarbeit, die ihnen bessere Kopfnoten verschaffen und Ärger mit den Eltern ersparen sollte.

 

Jana tastete sich in der Dunkelheit voran, ihr Puls rauschte in den Ohren.

Sie musste hier raus!

1.

 

Das Licht war für Sekunden erloschen. Jetzt blendete das flackernde Licht der Leuchtstoffröhre, das ein Schattentheater an die Wand warf.

Timo wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Was war das?«

»Kurzschluss oder so.« Lisa hockte noch immer auf dem Boden, streckte Timo eine Hand entgegen und ordnete mit der anderen die Haare. Doch Timo ignorierte die stille Bitte seiner Freundin, ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Sie zuckte mit den Achseln, sprang auf, strich sich die Hose glatt und zupfte das bauchfreie T-Shirt zurecht. Ihr Bauchnabelpiercing – ein kleines Männchen mit beweglichen Gliedmaßen – glitzerte in der Mitte einer rotvioletten Blüte. Die Tätowierung hatte sich Lisa vor einem halben Jahr rund um den Bauchnabel stechen lassen. Der Anfang eines floralen Oberkörpertattoos, hatte sie geschwärmt, doch bisher war es bei dieser einen Blume geblieben.

Kurz bevor das Licht ausgegangen war, hatte sie sich auf Jana gestürzt und sie verprügelt.

»Wo steckt Jana jetzt?«, fragte Timo. Er schaute auf den Teppich, auf dem Jana vor wenigen Minuten gesessen und sie alle lautstark mit der Wahrheit konfrontiert hatte.

Und die Wahrheit hatte Lisa noch nie vertragen können. Doch Timo musste sich eingestehen, dass Jana Recht hatte. Er liebte Lisa nicht und fragte sich häufig, warum er mit diesem Mädchen zusammen war. Er kannte die Antwort, wollte die Wahrheit aber nicht zugeben.

Vor ihrem Ausbruch hatte Jana wie paralysiert gewirkt, beinahe verträumt, und Timo war – zugegeben, nicht zum ersten Mal – aufgefallen wie hübsch sie aussah. Jana war introvertiert, diskutierte nie mit, hielt sich bei allem zurück und eckte nie an. Doch diesmal hatte sie verbal ausgeteilt, von der einstigen Schüchternheit war nichts geblieben. Das hatte Timo imponiert, er mochte Jana. Aber das würde er niemals zugeben. Kaum überraschend reagierte Lisa, als sie sich kreischend auf Jana gestürzt hatte. Und dann ging das Licht aus, als hätte diese überspannte Situation die alten elektrischen Leitungen überlastet.

Innerhalb von wenigen Sekunden war der Spuk vorbei und Jana hätte neben Lisa auf dem Boden sitzen müssen. Die Nase blutig, vielleicht. Doch dort, wo sie gesessen hatte, lag nur ihr Haargummi auf dem Teppich – dem Teppich, den Jana zuvor unter einer Holzbohle entdeckt hatte.

Neben Timo stand Schoko-Tobi, er hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Seine Wangenknochen mahlten. Er unterbrach das Kauen kurz, um eine weitere Ladung Bonbons in den Mund zu schieben.

Wie konnte ein einzelner Mensch diese Unmengen an Süßigkeiten in sich hineinstopfen, ohne nicht innerhalb eines Monats zu platzen? Jetzt furzte er auch noch, vollkommen hemmungslos. Der Dicke widerte ihn an.

»Ich habe ein Prickeln auf der Haut gespürt. Unangenehm. Und Wärme, wie ein Sonnenstrahl.« Das war René, der Timo mit leeren Augen anstarrte. Seine Blindheit schärfte andere Sinne, aber Timo wusste was er meinte. Die Dunkelheit hatte sie für einen Augenblick alle blind gemacht.

»Und hast du auch mitbekommen, wohin sich unsere Zuckerpuppe verkrochen hat?« Lisa bückte sich nach dem schwarzen Haargummi, mit dem sich Jana die taillenlangen, erdfarbenen Haare zurückgebunden hatte. Sie zog es auseinander und ließ es in den Raum schnappen, wo es unter einem der Regale verschwand.

René schüttelte den Kopf. »Ich habe die Türe nicht gehört.«

»Dann muss sie noch hier sein.« Mit erhobenem Kopf und gestrafften Rücken stolzierte Lisa an der ersten Regalreihe vorbei, klopfte auf die Metallverstrebungen und erzeugte ein kaltes Echo. »Komm raus, du blöde Kuh. Oder hast du Schiss?« Sie lachte.

Timo blickte zu Boden, er wollte Lisa nicht dabei zusehen, wie sie Jana verhöhnte. Lisa gehörte zu der Clique im Internat, die er brauchte, um zum Schulsprecher gewählt zu werden. Ein Feigling, das war er. In der Tat. Jana hatte mit jedem Wort die Wahrheit gesprochen.

»Angst hatte Jana nicht. Kein Stück.« Tobias grinste. »Sie hat richtig gut ausgeteilt.«

»Dir hat sie ja auch keine Komplimente gemacht, Fettsack. Aber du bist ja schon froh, wenn überhaupt einer mit dir spricht.«

Während Lisa den dicken Schoko-Tobi mit Worten verletzte, was sie besonders gut beherrschte, ging Timo zum Ende des Raums. Dort hatte Jana Ordner aus den Regalen geräumt und die Wandbehänge entdeckt. Drei Teppiche mit unterschiedlichen Mustern hingen an der Wand.

Einer stellte das gewebte Porträt einer alten Frau dar. Die hochgesteckten, weißen Haare hoben sich von dem tintenschwarzen Hintergrund ab. Eine orangefarbene Lilie verzierte den Dutt der Frau. Die schmalen, blassroten Lippen hatte die Alte zu einem Lächeln verzogen, als wisse sie was hier geschehen war. Auf der krummen Nase klebte ein Kaugummi. Smaragdgrüne Augen blickten Timo geradewegs ins Gesicht und wirkten gespenstisch lebendig. Er wendete sich ab. Staub und Zeit hätten die Farben blass wirken lassen müssen, doch dieser Teppich schien frisch gesaugt, anders als der Wandbehang daneben.

Blaue und orangefarbene Fäden glitzerten wie das Meer bei Sonnenuntergang. Flach gewebt schmiegte er sich vom Boden bis zur Decke an die Wand. Für einen kurzen Moment glaubte Timo eine wellenförmige Bewegung zu erkennen. Er blinzelte. Ornamente, aus grauer und brauner Wolle, rahmten das Meer ein. Zaghaft wischte Timo mit den Fingern den Rand entlang. Staubwolken flüchteten zu den Seiten. Die Borsten krümmten sich unter seiner Berührung. Timo presste die Handfläche gegen den Teppich. Das kitzelte auf der Haut, er lächelte. Die Oberfläche fühlte sich nun warm und weich an – wie das Fell eines Tieres. Timo zuckte zurück.

Der dritte Teppich zeigte eine gewebte Landschaft. Mittig schwebte ein bunter Heißluftballon. In der Gondel standen Menschen und winkten ihm zu. Timo ertappte sich dabei, wie er die Hand hob und zurückwinkte.

Lisa und Tobi stritten über den Fettgehalt von Süßigkeiten. Timo kehrte zu den anderen zurück.

Dort lag ein vierter Teppich, den Timo nur mit Mühe, und dank Renés und Tobias Hilfe, in den Vorraum des Archivs gezogen hatte. Jana hatte ihn unter einer gebrochen Holzlatte des Fußbodens entdeckt, nachdem sie René aufgeholfen hatte. Er war über ein paar Akten gestolpert.

Sie hatten den Teppich zur Hälfte ausgerollt. Auch dieses Stück war mit handwerklichem Geschick angefertigt. Silberne und goldene Fäden durchwoben moosfarbenes Garn und bildeten miteinander geometrische Formen und Schlangenlinien. Fransen klebten wie ineinander verschlungene, silberfarbene Spinnenbeine an der einen Saumseite des Teppichs.

»Habt ihr das auch gespürt? Dieses Prickeln, diese Wärme, diesen elektrischen Schlag?«, wollte René wissen. Anscheinend hatten weder Lisa noch Tobias auf ihn geachtet. Typisch.

»Das war nur ein Stromausfall, draußen herrscht ein Gewitter wie beim Weltuntergang.« Tobias schmatzte. »Jana wird ratzfatz aus der Tür gerannt sein. Wer will ihr das verübeln, wenn du sie verprügelst wie eine Wahnsinnige?« Mit Schweinsäuglein gaffte er Lisa an. Die ignorierte ihn, nahm seine Bemerkung jedoch zum Anlass, noch einmal auf Jana herumzuhacken. »Siehste, Timo. Sag ich doch. Die ist abgehauen und lässt uns mit dem Scheiß allein!«

»Die Tür ist nicht aufgegangen, das hätte ich gehört«, konterte René.

»Dann hat sie sich in Luft aufgelöst.« Tobias fantasierte. »So muss es gewesen sein.« Er klatschte in die Hände. »Zack. Puff. Und weg.«

»Du bist genauso dämlich wie Jana.« Lisa verdrehte die Augen und widmete sich ihren Fingernägeln. Ein Aufschrei ließ René zusammenzucken, Tobias hörte für wenige Sekunden auf zu kauen. Nur Timo ignorierte sie, denn er ahnte, welch persönliche Katastrophe diesen Aufschrei rechtfertigte.

»Mein Fingernagel ist abgebrochen! Das ist Janas Schuld. Diese Bitch, ich hasse sie. Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.«

Mit einem Ruck öffnete sich die Kellertür. Erleichtert über die Ablenkung und in der Annahme, dass Jana scheinbar doch aus dem Raum verschwunden war und nun zurückkehrte, drehten sie sich alle zur Tür. Der lockere Spruch, der Timo in den Sinn kam, blieb ihm jedoch im Halse stecken. Nicht Jana, sondern Stonehenge stand im Türrahmen.

Stonehenge hieß gebürtig Oliver Siebert, der Direktor führte das Internat mit strenger Hand, die Schüler fürchteten ihn. Er machte keinen Unterschied zwischen den Schülern, unabhängig davon, ob sie ein Handicap hatten oder nicht. Denn das Internat in Dänemark war eine Schule mit Inklusion. Hier lebten Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung zusammen. Stonehenge behandelte alle gleich und das wiederum schätzten die Schüler an ihm.

Den wenig schmeichelhaften Spitznamen hatte er vor Jahren von den Schülern verliehen bekommen. Seine versteinerten Gesichtszüge hatte er – wie Gerüchte besagten – einer verpatzten Schönheits-OP zu verdanken.

 

»Fürs Rumstehen gibt es weder gute Noten noch Freifahrtscheine. Im Foyer stehen zwei Eimer Farbe.« Er wandte sich zum Gehen, dann stutzte er: »Wo ist Jana Malek?«

Darauf wussten sie keine Antwort.

»Findet sie. Diese Arbeit müsst ihr zusammen bewerkstelligen. Ich habe euch Fünf aus gutem Grund für diese Aufgabe eingeteilt. Sie wird nur honoriert, wenn ihr sie gemeinsam erledigt. Und gute Kopfnoten könnt ihr alle gebrauchen, nicht wahr?«

Die schwere Eisentür knallte zu, Stonehenge ließ Ratlosigkeit und Wut zurück.

Meinungen zum Buch

Es ist mal ein völlig anderes, überraschendes und fantastisches Buch, dessen Verlauf in weiten Teilen unvorhersehbar ist und gerade deshalb so spannend zu lesen – nie wusste ich, wohin die Reise führt und was die Gruppe als nächstes erwartet. Das wirkt teilweise sehr zufällig und chaotisch, ergibt aber genau so auch Sinn, wenn man die unterschiedlichen Gedanken der Beteiligten zugrundelegt. Der Schreibstil wirkt sehr jugendlich, was natürlich haargenau zu den fünf ‘Freunden’ in der Geschichte passt, und damit vor allem – aber nicht nur – eine junge Leserschaft begeistern dürfte. Eine Fortsetzung ist möglich und wird am Ende auch angedeutet – ich wäre auf jeden Fall dabei.  – misspider

Eine Geschichte die mich sprachlich wie inhaltlich und auch charakterlich überzeugen und mitreißen konnte. Der mögliche Beginn einer Bücherreihe, wenn es auch weitergeführt wird. Ich würde mich sehr freuen denn schlussendlich konnten mich die Jungen und Mädchen gut unterhalten und gedanklich mit entführen, so dass ich gerne wissen mag, was sie weiter noch so erleben könnten. Denn die Welt der Teppiche, Gedanken und Gefühle ist weit! – Jennifer Siebenthaler

Jugendliche geraten in eine andere Welt. Und das ganz anders, als man es bisher aus anderen Urban-Fantasy-Büchern gewohnt ist.- Frank W. Werneburg, komplette Rezension in seinem Blog

Absolut lesenswert! – Klaus Spangenmacher bei bookola.de